Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan gewann Wahlen als Reformer, der die Militärs in die Schranken wies, als jemand, der vielleicht mit den Kurden einen Kompromiss schließen könnte, als Garant politischer Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums. Er versprach ein Ende der repressiven kemalistischen Herrschaft, die trotz Wahlen und Mehrparteiensystem über das Militär, das Verfassungsgericht und die politische Justiz die Gesellschaft im Würgegriff hielt. Seit über zehn Jahren ist er an der Macht.
Ömer Erzeren: "Wer nach der Gewaltorgie in Istanbul im Sommer dieses Jahres noch das reformerisch-demokratische Selbstverständnis Erdogans preist, ist ein Zyniker. Der brutale Polizeieinsatz gegen zumeist friedliche Demonstranten, der Tote, Erblindete und viele Verletzte zur Folge hatte, war von ihm angeordnet. Denn eine wirkliche Demokratisierung hatte es nicht gegeben."
Die Demonstranten auf dem Taksim-Platz vom Juni dieses Jahres haben dies in Erinnerung gerufen.
Die türkische Gesellschaft, auch die politische Basis Erdogans, ist höchst ausdifferenziert und heterogen. Der Taksim-Platz spiegelte genau diese Vielfalt wider und offenbarte: Auch ohne staatliche Repression kann es ein Zusammenleben geben. Auch nach der Räumung des Platzes ist nichts mehr so, wie es war. Die Sehnsucht nach einer besseren Türkei ohne Panzer und Wasserwerfer ist zum Praxisversuch geworden - trotz aller Rückschläge.
Der Vortrag analysiert die aktuelle Situation in der Türkei.